In den öffentlichen Debatten um die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kommt in vielen Argumentationen dem Vergleichen eine Schlüsselrolle zu. Dabei werden ganz unterschiedliche Arten von Gegenständen miteinander verglichen – das neue Corona-Virus mit anderen Viren, die gegenwärtige Pandemie mit früheren Pandemien und Epidemien, die pandemiebedingte Wirtschaftskrise mit Wirtschaftskrisen vergangener Zeiten usw. Angesichts der vielgestaltigen Unsicherheiten bezüglich Wissen und Moral, mit denen wir uns aufgrund der Pandemie konfrontiert sehen, ist dies nicht nur allzu verständlich, sondern verspricht vielfach auch einen Erkenntnisgewinn, wie der Kunsthistoriker und Vergleichsexperte Johannes Grave überzeugend dargelegt hat: In unserem Ringen um Orientierung in der gegenwärtigen Ausnahmesituation greifen wir auf Vergleiche zurück – in der (oftmals durchaus berechtigten) Hoffnung, dass das, was wir bereits über andere Viren, Pandemien und Krisen wissen, auch für den Umgang mit dem Corona-Virus und der durch es verursachten Pandemie aufschlussreich sein mag.
Vom Vergleich zum Analogie-Argument: Die Suche nach Analogien zur Orientierung in der Corona-Pandemie
Als besonders hilfreich für eine Orientierung können dabei solche Vergleiche gelten, die in Analogien münden: Wenn sich etwa zeigen lässt, dass SARS-CoV-2 sich in einer relevanten Hinsicht analog zu einem uns besser bekannten Virus verhält, dann kann es als gerechtfertigt erscheinen, Annahmen über das bekanntere Virus auf SARS-CoV-2 zu übertragen. Solche Analogie-Argumente, bei denen wir aufgrund einer Analogie von einem auf das ihm analoge andere schließen, sind nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in der Philosophie gang und gäbe. Analogie-Argumente ermöglichen es uns unter anderem, Fälle, bezüglich deren unsere Urteile nicht eindeutig oder schwer zu greifen sind, mit analogen Fällen in Verbindung zu bringen, über die wir ein eindeutigeres Urteil fällen können. (In diesem Sinne können auch Gedankenexperimente, um die sich die Reihe denXte im Rahmen ihrer Vortragsveranstaltungen dreht, Eingang in Analogie-Argumente finden: Wenn wir im Lichte des Trolley-Case-Gedankenexperiments etwa zu dem moralischen Urteil gelangen, dass es nicht gerechtfertigt ist, das Leben eines einzelnen Menschen zu opfern, um einer Gruppe von Menschen das Leben zu retten, dann können wir unser so gewonnenes moralisches Urteil auf tatsächliche Situationen des täglichen Lebens übertragen, sofern diese Situationen der Situation im Gedankenexperiment analog sind.)
Die Plausibilität von Analogie-Argumenten ermisst sich insbesondere daran, ob die Analogie, die den Ausgangspunkt des Arguments bildet, tatsächlich besteht: Wenn sich zeigen lässt, dass eine solche Analogie gar nicht gegeben ist, dann erweist sich ein Analogie-Argument, das auf sie zurückgreift, als nicht überzeugend.
Der Verkehrstote-Vergleich: Analoger Umgang mit Risiken des Autoverkehrs und Risiken der Corona-Pandemie?
In der Diskussion um die Angemessenheit der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und etwaiger Lockerungen kommt vermehrt ein Vergleich zur Sprache, den ich hier als Verkehrstote-Vergleich bezeichnen möchte. Den Ausgangspunkt dieses Vergleichs bildet die Feststellung, dass die Risiken des Autoverkehrs uns nicht dazu veranlassen, den Autoverkehr einzuschränken oder gar zu unterbinden: Obwohl im Autoverkehr jedes Jahr mehrere tausend Menschen ihr Leben verlieren – im vergangenen Jahr sind über 3.000 Menschen dadurch zu Tode gekommen –, stellen wir das Autofahren weder ein, noch begrenzen wir es radikal, um das Leben zukünftiger Verkehrstoter zu retten. Daraus lässt sich ableiten, dass uns Menschenleben nicht grundsätzlich als ein Gut gelten, das eines absoluten Schutzes bedarf: Unser Umgang mit den lebensbedrohlichen Risiken des Autoverkehrs zeigt, dass wir das Retten von Menschenleben nicht für prinzipiell unabwägbar halten. Frank Dietrich, der in seiner philosophischen Einschätzung der Corona-Pandemie auf den Verkehrstote-Vergleich zurückgreift, kommentiert diesen Umgang mit den Risiken des Autoverkehrs wie folgt: „Wir sind […] nicht zu drastischen Einschnitten bereit, weil uns der Verlust an Freizügigkeit und der zu erwartende ökonomische Schaden als zu hoher Preis erscheinen.“ Wenn wir also im Umgang mit den lebensgefährdenden Risiken des Autoverkehrs der Wahrung der Freizügigkeit und der Vorbeugung ökonomischer Schäden eine derart zentrale Rolle einräumen, sollten wir dann im Umgang mit den Risiken der Pandemie, die Menschenleben ebenso unmittelbar betreffen, analog verfahren?
Ob wir aus unserem Umgang mit den Risiken des Autoverkehrs in dieser Weise Rückschlüsse auf unseren Umgang mit den Pandemie-Risiken ziehen können, hängt wesentlich davon ab, ob wir es hier wirklich mit einer Analogie zu tun haben: Tritt im Vergleich der Risiken des Autoverkehrs mit den Risiken der Corona-Pandemie tatsächlich eine Analogie zutage, die einen Schluss von unserem Umgang mit ersteren auf unseren Umgang mit letzteren als gerechtfertigt erscheinen lässt? Anders gefragt: Können wir aus unserem Umgang mit dem Autoverkehr eine Orientierungshilfe in Form eines Analogie-Arguments gewinnen, um zu ermessen, wie wir in moralisch angemessener Weise mit den Risiken der Corona-Pandemie verfahren sollten – ob etwa die Maßnahmen zugunsten der Freiheit und wirtschaftlicher Aspekte weiter zu lockern sind?
Frank Dietrich geht offenbar davon aus, dass sich in diesem Vergleich tatsächlich eine Analogie abzeichnet – eine Analogie, die darin begründet liegt, dass wir in beiden Fällen (Umgang mit dem Autoverkehr und Umgang mit der Corona-Pandemie) dieselben Güter gegeneinander abwägen müssen: „Das Beispiel [des Autoverkehrs] erscheint mir aufschlussreich, weil hier die Lebensrettung mit denselben Gütern konkurriert, die durch die Lockdown-Politik betroffen sind.“ Sofern eine solche Analogie tatsächlich besteht, können wir aus unserem Umgang mit den Risiken des Autoverkehrs etwas darüber lernen, wie ein moralisch angemessener Umgang mit den Risiken der Pandemie zu gestalten wäre. (Das gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass unser Umgang mit den Risiken des Autoverkehrs sich tatsächlich als moralisch angemessen charakterisieren lässt. Auch dies ließe sich mit guten Gründen bestreiten – etwa, wenn wir auch die Effekte des Autoverkehrs auf unsere Umwelt und unser Klima berücksichtigen. Da es hier jedoch um die Frage gehen soll, inwieweit sich eine aufschlussreiche Analogie ergibt, wenn wir unseren Umgang mit dem Autoverkehr und unseren Umgang mit der Pandemie vergleichen, werde ich diesen möglichen Einwand hier nicht weiter verfolgen.)
Warum sich aus dem Verkehrstote-Vergleich keine Analogie gewinnen lässt, die uns in der Corona-Pandemie als moralische Orientierungshilfe dienen könnte
In einer Hinsicht ist die Bezugnahme auf die Risiken des Autoverkehrs und unseren Umgang mit ihnen sicherlich aufschlussreich für unsere moralische Bewertung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Denn für eine solche Bewertung erscheint es sinnvoll, zunächst einmal zu klären, ob wir die Rettung menschlichen Lebens als prinzipiell unabwägbar auffassen sollten, oder ob es andere Güter gibt – etwa Freiheitsrechte und andere Grundrechte –, gegen die die Lebensrettung abgewogen werden kann. Sollte sich zeigen, dass die Rettung von Menschenleben grundsätzlich keinerlei Abwägungen zulässt, ergäbe sich eine eindeutige moralische Bewertung der Maßnahmen: Wo immer deren Lockerungen einer Rettung von Menschenleben zuwiderliefen, wären die entsprechenden Lockerungen als moralisch unangemessen zurückzuweisen.
Der Hinweis, dass wir in anderen Bereichen des Lebens den Lebensschutz nicht absolut setzen, kann also für die Frage, die wir Ihnen in der ersten denXte-eXtra-Folge vorgelegt haben, durchaus aufschlussreich sein – und damit auch für eine erste moralische Bewertung möglicher Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen: Wenn die Rettung von Menschenleben nicht über allem steht, dann lassen sich solche Lockerungen mit einem Verweis auf eine dadurch ggf. verhinderte Lebensrettung nicht prinzipiell als moralisch unangemessen zurückweisen. Der Umstand, dass wir nicht bereit sind, den Straßenverkehr zugunsten der Rettung potenzieller Verkehrstoter aufzugeben, ist ein Indikator für unsere mangelnde Bereitschaft, dem Lebensschutz tatsächlich einen absoluten Stellenwert einzuräumen.
Damit ist aber nur gezeigt, dass es wenig überzeugend ist, unter Verweis auf den Lebensschutz jedwede Lockerung der Schutzmaßnahmen kategorisch als moralisch verfehlt zurückzuweisen. Lockerungen können also durchaus moralisch angemessen sein – aber unter welchen Umständen und in welchem Umfang sind sie es? Kann uns ein Vergleich unseres Umgangs mit den Risiken des Straßenverkehrs und unseres Umgangs mit der Pandemie zu einer differenzierteren Bewertung der Lockerungen verhelfen, indem wir daraus ein Analogie-Argument bilden, wie es Frank Dietrichs Äußerung nahelegt? Können wir daraus den Schluss ziehen, dass um der Freiheitsrechte und der Wirtschaft willen die Corona-Schutzmaßnahmen weiter zu lockern sind?
So aufschlussreich unser Umgang mit den Risiken des Autoverkehrs für eine generelle moralische Bewertung des Lebensschutzes sein mag, so wenig können wir daraus für den Umgang mit der Corona-Pandemie ableiten. Denn wenn wir die Risiken, mit denen wir es im Autoverkehr zu tun haben, mit denen der Pandemie vergleichen, wird eben doch keine tragfähige Analogie erkennbar, die es erlauben würde, aus unserem Umgang mit ersteren Rückschlüsse auf unseren Umgang mit letzteren zu ziehen. Dies liegt in der ebenso großen wie umfassenden Ungewissheit begründet, mit der wir im Hinblick auf die Risiken der Pandemie konfrontiert sind – anders als im Falle der Risiken des Autoverkehrs.
Diese Ungewissheit besteht zunächst hinsichtlich des Ausmaßes, das das Risiko jeweils annimmt: Während wir in Bezug auf den Autoverkehr unter Betrachtung der Statistiken und Entwicklungen der vergangenen Jahre abschätzen können, wie groß die Zahl der Verkehrstoten pro Jahr in etwa sein wird, ist uns eine ähnlich verlässliche Einschätzung bezüglich der Todesopfer der Pandemie gegenwärtig nicht möglich. Wir wissen nicht, wie viele Menschen durch das Virus zu Tode kommen werden. Die Ungewissheit erstreckt sich zudem nicht nur auf die Zahl der zu erwartenden Todesfälle, sondern auch auf die Zahl derjenigen Menschen, die durch eine Infektion bleibende Folgeschäden davontragen werden: Während Statistiken zu Unfällen im Straßenverkehr Aufschluss darüber geben können, wie viele Menschen durch solche Unfälle körperliche Verletzungen erleiden, die langfristige Einschränkungen zur Folge haben, wissen wir bislang kaum etwas darüber, mit welchen Schäden Menschen, deren Infektion mit SARS-CoV-2 einen schwereren Verlauf nimmt, dauerhaft konfrontiert sein werden.
Dass wir den Autoverkehr in gewohnter Weise beibehalten würden, wenn das Ausmaß des sich daraus ergebenden Risikos gleichermaßen unklar wäre, erscheint mehr als zweifelhaft. Wäre nicht absehbar, ob der Autoverkehr pro Jahr im Schnitt 3.000, 30.000 oder 3.000.000 Todesopfer fordert, und wäre gleichermaßen ungeklärt, wie viele Menschen durch ein uneingeschränktes Beibehalten des Autoverkehrs bleibende Schäden erleiden, dann fiele eine Abwägung seiner Risiken und Vorteile aller Voraussicht nach anders aus als es gegenwärtig der Fall ist. Wir können annehmen, dass wir den Autoverkehr in seiner jetzigen Form unter diesen Umständen nicht mehr als verhältnismäßiges Mittel zur Förderung von Freiheit und Wirtschaft auffassen würden.
Neben der kollektiven Ungewissheit, mit der wir den Risiken der Pandemie als Gesellschaft gegenüberstehen und die die Abschätzung des gesamten Ausmaßes dieser Risiken betrifft, besteht überdies auch eine individuelle Ungewissheit, da wir überwiegend nicht mit Sicherheit wissen können, ob wir infektiös sind oder nicht. Die enorme Tragweite dieser Ungewissheit für eine juristische Bewertung der Corona-Schutzmaßnahmen beleuchtet der Jurist Christoph Bublitz in seinem lesenswerten Beitrag zu Solidarität und Pflicht in der Pandemie. Auch eine solche individuelle Ungewissheit ist im Falle des Autoverkehrs nicht gegeben: Diejenigen, die sich am Autoverkehr beteiligen, können in etwa abschätzen, wie groß die daraus resultierenden Gefahren für sie selbst und andere sind. Wer heute in den Supermarkt geht oder erwägt, ob ein Besuch der Großmutter im Pflegeheim opportun ist, kann eine solche Gefahrenabschätzung hingegen nicht leisten.
Aufgrund dieses grundlegenden Unterschieds im Hinblick auf unser Wissen über die jeweiligen Risiken ist der Verkehrstote-Vergleich für die Frage nach der moralischen Angemessenheit von Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen somit wenig aufschlussreich. Nun ließe sich allerdings einwenden, dass diese Ungewissheiten mit der mittelfristig erwartbaren Zunahme von Erkenntnissen über SARS-CoV-2 schon bald ebenso großen Gewissheiten weichen werden, wie sie uns in der Einschätzung der Risiken des Autoverkehrs gegeben sind. Auf der Grundlage dieses Erkenntnis-Zugewinns ließe sich möglicherweise doch eine Analogie begründen, wenn die in Rede stehenden Risiken sich hinsichtlich ihres Ausmaßes tatsächlich als analog erweisen sollten. Aber auch ein solcher Erkenntnisgewinn verspräche nur begrenzte Einsichten für die Frage danach, ob und wie die Corona-Schutzmaßnahmen zu lockern wären. Denn es ist nicht so, dass wir den Autoverkehr überhaupt nicht beschränken: Verkehrsregeln, verkehrsberuhigte Zonen, Geschwindigkeitsbegrenzungen u.ä. dienen dazu, dessen Risiken für unser Leben und unsere Gesundheit stark zu minimieren. Auch im Falle des Autoverkehrs kommt dem Schutz menschlichen Lebens also ein hoher Stellenwert zu, der Einschränkungen zulasten von ökonomischen Aspekten und Aspekten der Freiheit als gerechtfertigt erscheinen lässt. Selbst wenn sich die Annahme einer Analogie unter anderen Vorzeichen doch als gerechtfertigt erweisen würde, böte eine solche Analogie für eine Begründung von Lockerungen somit keinen nennenswerten Mehrwert.
Dr. Amrei Bahr ist Teil des denXte-Teams.